Bayern: Pfaffenhofen – lebenswerteste Kleinstadt der Welt - WELT (2024)

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Als der Bürgermeister die koreanische Szene betrat, ausgestattet mit einer kurzen Lederhose und vielen, als Geschenk gedachten Masskrügen, auf denen ein Motiv des Leipziger-Schule-Malers Christoph Ruckhäberle zu sehen war, standen wir daheim in der alten Herion-Halle und bewunderten ein Alaska-Kaninchen. Es besaß tiefschwarzes Fell, ein entzückendes weißes Schnäuzchen und war sogar bereit, für ein paar Sekunden an der Mohrrübe zu nagen, die unsere Tochter ihm hinhielt.

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Das Kaninchen stammte vom Topzüchter von B 205, unserem örtlichen Verein, und hatte vor nicht zwei Stunden von den Preisrichtern 98 Punkte bekommen. Möglich waren 100, aber diese Exemplare haben den Garten Eden nie verlassen. 98 hat ein wirklich guter Züchter vielleicht ein-, mit Glück zweimal im Leben. Auf der Bundeskaninchenschau in Bremen vor ein paar Jahren waren über 30.000 Kaninchen anwesend, fünf davon hatten 98 und drei von diesen fünfen stammten von B 205, Pfaffenhofen.

Um es gleich klarzustellen: Das Pfaffenhofen, aus dem die vorzüglichsten Alaska-Kaninchen der Bundesrepublik kommen und das in Seoul gerade zur lebenswertesten Kleinstadt der Welt erklärt wurde, ist nicht Sitz des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, das ist Oberpfaffenhofen, ein Dorf in der Starnberger Gegend, sondern eine Kreisstadt auf der anderen, im Schatten des seenreichen Südens stehenden Nordseite Münchens. Um es von den rund 25 anderen Pfaffenhofen im süddeutsch-österreichischen Raum unterscheiden zu können, trägt es den Namen des Flüsschens bei sich, an dem es gegründet wurde: Pfaffenhofen an der Ilm.

Angeblich ist "Ilm“ indogermanischen Ursprungs und bedeutet, "Die sich Bewegende“, und bewegend jedenfalls war die romantische Reaktion jener norddeutschen Germanistikstudentin in meinem ersten Münchener Semester, als ich ihr in einem Café beschrieb, wie ich jeden Abend dichtend an der Ilm entlangzuspazieren pflegte, und sie verblüfft fragte, ob ich extra zum Spazierengehen nach Weimar führe, denn, richtig, die andere Ilm fließt an Goethes Gartenhaus vorbei.

Unsere Ilm schlängelt sich lieblich durch ihr Tal und dort, wo einst über ein Dutzend Bäche zu einem grobmaschigen Delta zusammenflossen, um in die Ilm zu münden, liegt Pfaffenhofen. Besiedlung gibt es seit etwa 6000 Jahren, das Stadtrecht haben wir seit knapp 600 Jahren.

Im Streit der bayerischen Herzöge um die Vormacht in Bayern spielte Pfaffenhofen seine Rolle als nördlichster Außenposten des kleinsten Herzogtums Bayern-München, das sich aber gegen Landshut und Ingolstadt durchsetzte und seine nördliche Speerspitze mit denselben Steuer- und Wegerechten wie die Hauptstadt selbst ausstattete, sodass Pfaffenhofen auch "Klein-München“ genannt wurde.

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Pfaffenhofen war die zentrale Raststätte an der wichtigsten Straße Oberbayerns, die mitten durch Pfaffenhofen ging. Den Durchreisenden bot sich eine Wirtschaft neben der anderen an, ausdrücklich durfte man seine Kutschen und Kaleschen überall parken, und es gibt Fotos, auf denen der 13.000 qm große Platz schwarz von Chaisen ist.

Seit ein paar Jahren erst beginnt sich auf dem neu angelegten Platz eine Fußgängerzone breitzumachen, die die Stadt den anliegenden Geschäftsleuten abgerungen hat, die alle für viele Parkplätze eintreten, nur natürlich dort nicht, wo sie beispielsweise selbst ihre Außengastronomie betreiben.

Mit einer Kfz-Zulassungsquote von 926 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner liegt unser Landkreis in Europa an der Spitze, und das nicht nur, weil jeden Tag 5000 Pfaffenhofener auspendeln, um als Ingenieure bei Audi in Ingolstadt oder bei BMW, Siemens oder anderen Flagships in München zu arbeiten, sondern weil das Pfaffenhofener Land eine kleinteilige Landwirtschaft hat und jeder rechte Bauer mindestens drei Fahrzeuge besitzt.

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Pfaffenhofen ist die einwohnerreichste Stadt der Hallertau, des größten zusammenhängenden Hopfenanbaugebiets der Welt. Jahrhundertelang war die Hallertau ein dunkler Fleck auf Bayerns Karte, und was wir heute als liebliche Hügellandschaft empfinden, war mühsam zu bestellen und brachte ein verschlagenes, bergzähes Bauernvolk hervor.

Interessanterweise war es dann die industrielle Revolution des Brauereiwesens, die den Hallertauer Hopfenbauern Reichtum verschaffte – die Großbrauereien Münchens brauchten immer mehr des "Grünen Golds“, und so begann Mitte des 19. Jahrhunderts die erste aus dem Hügelboden gestampfte Speziallandwirtschaft.

Nirgendwo in Deutschland wurden zuvor so viele Maschinen in der Landwirtschaft eingesetzt wie bei den Hallertauer Hopfenbauern, die sich als erste landwirtschaftliche Branche ein Forschungsinstitut leisteten. Zum Glück gab es schon früh den Eisenbahnanschluss.

Der Energiehunger der Großlandwirtschaft und des Gewerbes führte auch zur Gründung des ersten bayerischen Stromerzeugers, aus welchem sich nach einigen Metamorphosen der Energiekonzern E.on entwickelt hat. Zu den besten Kunden seiner Wasserkraftsparte gehört die Stadt Pfaffenhofen, die ihren gesamten Strom aus Wasserkraft bezieht. Auch war Pfaffenhofen die erste Stadt Europas, die die Forderungen des Kyoto-Protokolls durch den Bau eines Biomasse-Heizkraftwerks im Jahr 2000 sogar übererfüllte.

Dass Technikbegeisterung, der Wunsch nach Modernität und nachhaltiges Wirtschaften gerade in Pfaffenhofen zusammenkommen, mag auch mit einer Unternehmerdynastie zu tun haben, die die Stadt wie keine andere geprägt hat, der Familie Hipp. War es doch Georg Hipp, der sein Babynahrungsunternehmen schon in den 80er-Jahren auf die ausschließliche Verarbeitung chemiefrei produzierter, heute würde man sagen, biologischer Lebensmittel verpflichtete, weil er den Wirkungen der Agrarchemie zutiefst misstraute.

Konservatives Standhalten bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Modernität gab es bei uns schon immer – und so verdient sich die Stadtväter während des bayerischen Wirtschaftswunders der Strauß-Ära beim Ausbau der Infrastruktur machten, so lehnten sie es ab, den Münchener S-Bahn-Verkehr bis nach Pfaffenhofen zu verlängern.

Blickt man heute in jene Dörfer und Kleinstädte, an denen die S-Bahn endet, wird man die damalige Entscheidung weise finden – wer möchte schon in einem aufgeblähten Dorf mit neun Apotheken und keiner einzigen Buchhandlung wohnen, in der das beeindruckendste riesige Pendlerparkplätze sind?

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Ich jedenfalls nicht. Ich genieße zwar, dass man mit der Eisenbahn nach München gerade noch 24 Minuten braucht, aber auch, dass sich Pfaffenhofen seine stolze Eigentümlichkeit bewahrt hat. Noch. Denn es wurden und werden beständig Weichen gestellt, die den Charakter unseres einstmals an Weinstuben, Wirtschaften, Biergärten, Sälen und Tanzhäusern reichen Gemeinwesens radikal verändern und das Menetekel einer nur noch zum Schlafen geeigneten Satellitenstadt heraufbeschwören.

In den letzten beiden Jahren verloren wir neben vielen anderen Gebäuden allein drei legendäre Gasthäuser, zusammen wohl an die 3000 qm öffentlich-kulturellen Raums. Andererseits ist es uns gelungen, aus der Konkursmasse eines mitten in der Stadt gelegenen Schwerindustriegeländes – welches ein Wohnquartier für über 300 Menschen wird – eine wunderschöne 800 qm große Halle herauszulösen, in deren Keller sich nun Bayerns größte Skateranlage befindet, während zu ebener Erde Ausstellungen stattfinden, die von Timm Rautert, Michael Wesely oder Joseph Beuys bis zu den Wunder-Kaninchen reichen.

Dass die Vorstände von Kunstverein und Kaninchenzüchtern sich erstmals unter der selten vollständig zu sehenden neunteiligen Grafikserie "Amerikanischer Hasenzucker“ von Joseph Beuys begegneten, auf der aber eben gar kein Hase, sondern ein Kaninchen zu sehen ist, wie der Mann von B 205 gerührt feststellte, dass sich das Traditionelle und das Moderne hier laufend begegnen, mag daran liegen, dass wir trotz unserer bescheidenen Größe von 24.000 Einwohnern nie aufgehört haben, uns als Stadt zu betrachten, die sich zwischen dem Einfluss zweier Großstädte, ihres kulturellen Angebots und ihrer unwiderstehlichen Wirtschaftskraft hindurchzufinden hat und selbstständig bleiben muss – denn Münchner können wir und Ingolstädter wollen wir nicht sein.

Es ist dem jungen Bürgermeister Thomas Herker zu danken, dass er den Pfaffenhofener Eigensinn wiederzuerwecken vermochte. Gestützt von einer für den Freistaat perspektivisch hochinteressanten bunten Koalition aus Freien Wählern, Grünen und Sozialdemokraten geht er furchtlos ein millionenschweres Infrastrukturprojekt nach dem anderen an, öffnet andererseits Spielräume für privates und gemeinnütziges Engagement in allen Bereichen.

Eine 150 Jahre alte Stadtkapelle und ein junger Solarverein, der bald das erste Bürgerkraftwerk in Betrieb nehmen wird; die Rettung einer alten Landwirtschaft durch die Errichtung einer nachhaltigen Modellsiedlung; den originellsten Jazzklub Bayerns, der sich zu einer Lieblingsadresse der jungen New Yorker Jazzszene entwickelt hat; ein funktionierendes Regionalgeld; von den herrlichen Kaninchen ganz zu schweigen.

Lebenswert ist eine Stadt, in der man sich einbringen kann – anstrengend eine Stadt, in der man es muss. Pfaffenhofen ist beides.

Steffen Kopetzky ("Der letzte Dieb“, Luchterhand) wurde 2008 als Parteiloser in den Stadtrat von Pfaffenhofen gewählt und ist dort Kulturreferent.

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